Mathias von Gersdorff
Die seit dem 6. Oktober tagende „Amazonas-Synode“ im Vatikan sorgt für
nicht geringe Irritationen und Perplexitäten unter den Katholiken. Grund dafür
war zuerst der Duktus des Arbeitsdokumentes (Instrumentum laboris), das sich
fast wie ein Pamphlet der Grünen liest und deutliche Sympathien für die
(heidnischen) Lebensgewohnheiten der indigenen Völker in der Amazonasregion
zeigt.
Weiterer Unmut entstand nach der Bekanntgabe der Teilnehmer an der Synode.
Es finden sich die Namen der radikalsten Vertreter der Befreiungs-, der
ökologischen und der indigenen Theologie. Diese theologischen Richtungen
plädieren für einen völlig neuen Weg der katholischen Kirche und einen
drastischen Abschied von der katholischen Tradition und dem Lehramt. Und nun
kommen immer wieder Berichte über heidnische Praktiken rund um die tagende
Synode und von heterodoxen Stellungnahmen in der Synodenaula.
Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Was ist los in Teilen der
katholischen Kirche?
Als Ausgangspunkt Hans Küng
Der Theologe Hans Küng beschreibt in seinem Buch „Sieben Päpste“ vom Jahr
2015 das, was er als Grundübel der katholischen Kirche ansieht: Die Bildung
eines effizienten und schlagfertigen Apparates im Vatikan unter dem Pontifikat
von Innozenz III. (Papst von 1198 bis 1216), also der Vatikanischen Kurie.
Alle Progressisten sind mehr oder weniger der Auffassung, dass damals die
katholische Kirche mehr oder weniger (es gibt nämlich erhebliche
Schattierungen) zu einem Apparat geworden ist, der den Geist erstickt. In der
Kirche stehe angeblich seitdem nicht mehr der direkte und uneingeschränkte
Glaube im Mittelpunkt, sondern das Kirchenrecht, die lehramtlichen Dokumente,
der Machtanspruch des Papstes, die Kirchenverwaltung.
Diese Karikatur kann nur bei Personen entstehen, die die Kirche nicht als
eine übernatürliche Institution, deren Leben von der göttlichen Gnade geleitet
wird, ansehen. Dann kann man leicht zur Auffassung kommen, das real
existierende Leben der Kirche hätte genauso gut einen völlig anderen Weg nehmen
können, als ob Gott nicht letztlich die Geschichte leiten würde.
Der heutige Progressismus will im Grunde die Kirchengeschichte korrigieren.
Dies geschieht auf zwei Wegen, dem europäischen und dem südamerikanischen Weg.
Die europäische (progressistische) Vision von Kardinal Marx & Co.:
Was der europäische Reformkatholizismus will, ist bekannt: Die Anpassung
der Kirche an den Zeitgeist. Dem Zeitgeist messen die Progressisten Autorität
zu. Er besitzt sogar Deutungshoheit darüber, wie das Leben und der Glaube in
der Kirche sein sollen. Aus diesem Grund werden die Thesen des Zeitgeistes
bereitwillig übernommen: Die Kirche hat demokratisch zu sein, die Sexualmoral
soll sich an die Ansichten der Welt anpassen, der Feminismus hat die Strukturen
der Kirche zu bestimmen etc. Heute soll der Ökologismus die prägende Idee in
der Kirche sein.
Die Tradition, die Kirchengeschichte, das Lehramt, die Dogmen, die
Volksfrömmigkeit werden als unnötigen Ballast angesehen, der den Glauben
erstickt. Vielmehr soll sich die Kirche ständig neu erfinden: Liturgisch,
glaubensmäßig, moraltheologisch.
Die lateinamerikanische (befreiungstheologische) Vision von Kardinal Humes
& Co.:
In Südamerika hat der Progressismus einen anderen Weg genommen, weil er
stark vom Marxismus beeinflusst wurde. Die sog. „Befreiungstheologie“ ist die
Übernahme der Methode des Klassenkampfes in die katholische Kirche. Die
Befreiungstheologie verteidigte die Notwendigkeit eines Klassenkampfes der
Armen gegen die Reichen, genauso wie der klassische Marxismus.
Weil der katholische Glaube keine „Klassen“ kennt, wurde die
Befreiungstheologie vom Vatikan verurteilt (u.a. durch die Instruktion der
Glaubenskongregation Libertatis nuntius im Jahr 1984).
Sie lebte aber in den Köpfen vieler Theologen fort und durchlief eine
erstaunliche Metamorphose. Auf der Basis der Befreiungstheologie entstanden
eine „Feministische Theologie“, eine „Ökologische Theologie“, eine „Indigene
Theologie“ etc.
Allen liegt die Grundthese zugrunde, dass eine herrschende Schicht die
große Mehrheit der Menschen unterdrückt.
Die „Indigene Theologie“ ist aus kulturrevolutionärer Perspektive die
radikalste: Sie besagt, dass die ganze Kolonisierung und Evangelisierung
Lateinamerikas ein einziger Akt der Unterdrückung war. Wohlgemerkt: Auch die
Evangelisierung. Denn diese habe legitime religiöse Gewohnheiten zerstört.
Ebenso habe man den Eingeborenen eine europäische Weltanschauung aufgedrückt.
Auf diese Weise leben die Urvölker seit 500 Jahren kulturell und religiös
unterdrückt.
Eine europäische Version dieser These würde behaupten (und der NS-Ideologe
Rosenberg tat dies auch), den Germanen hätte man ihre Naturverbundenheit samt
ihrem Kult zur „Mutter Erde“ und zu den anderen Gottheiten genommen.
Was verbindet den europäischen und den lateinamerikanischen Progressismus?
Obwohl rein äußerlich sich europäischer und lateinamerikanischer
Progressismus sehr unterscheiden, sind sie eng verwandt: Beide lehnen Tradition
und Lehramt ab. Beide sind der Auffassung, der Glaube müsse sich völlig
ungebunden entfalten und brauche keine Kurie, kein Kirchenrecht, keine
Dikasterien, keine Hierarchie.
Was denkt die „Mitte“?
Die oben beschriebenen Strömungen sind radikal, bilden aber keine Mehrheit.
Die Mehrheit der Bischöfe versuchen in einer Äquidistanz (gleicher Abstand) zu
Tradition und zur Anpassung an die Welt zu leben. Doch wegen der allgemeinen
Krise der Kirche (Missbrauchsfälle, Krise der Berufungen, schwindende Zahl von
Gläubigen etc.) ist diese Mehrheit sehr schwach und blass. Deshalb ist heute
der Einfluss der Progressisten, auch der Radikal-Progressisten, sehr stark. Sie
treten mit großer Autorität auf und kaum einer wagt es, ihnen zu widersprechen.
Was ist neu an der heutigen Situation: Die Umgürtelung ist gesprengt.
Nun könnte man sagen, dass diese Bildung von Strömungen oder Parteien seit
dem Zweiten Vatikanischen Konzil sehr ausgeprägt ist: Die einen wollen alles
umkrempeln. Die anderen wollen, dass sich nichts ändert (Eine dritte Gruppe
will, dass man zu Zeiten von Pius XII. zurückkehrt. Sie sind aber in der Synode gar
nicht vertreten).
Heute ist aber neu, dass die unterschiedlichen Sektoren in der Kirche wie
isolierte Inseln leben. Die Umgürtelung, die es noch unter Figuren wie Kardinal
Lehmann gab, gibt es nicht mehr. Jeder Gruppe lebt sozusagen für sich allein.
Das führt dazu, dass die radikalen Wortführer, die von Lehramt und
Tradition nichts halten, immer offener agieren und sich noch mehr radikalisieren.
Der Konsens, was katholisch ist und was nicht, zerbricht zunehmend. Nichts
ist mehr verbindlich. Die zentrifugalen Kräfte wachsen. Inzwischen wird offen
über mögliche Schismen gesprochen, was noch vor wenigen Jahren undenkbar
gewesen wäre.
Die Perspektiven:
Allein die Tatsache, dass manche Bischöfe laut über das Frauenpriestertum
nachdenken, wie etwa Bischof Peter Kohlgraf von Mainz, zeigt, dass die Lage
äußerst kritisch ist.
Aus dem lateinamerikanischen Progressismus hört man Forderungen, wie etwa
eine Entschuldigung der Kirche für die Evangelisierung der Indianer. Sie seien
von Gott direkt „getauft“ worden und hätten in einem paradiesischen Zustand
gelebt. Der Westen hätte all das zerstört und Jesus Christus wäre demnach kein
notwendiger Retter mehr.
Hier geht es nicht "nur" um Häresien, sondern um offene
Apostasie, also komplette Abkehr vom Christentum.
Was ist das Ergebnis: Die Amazonas-Synode ist ein „Va-Banque-Spiel“
Was kann daraus folgen? Der Progressismus scheint aus der Amazonas-Synode
ein Va-Banque-Spiel gemacht zu haben. Also „Alles oder nichts“. Vieles deutet
darauf hin, dass sie endgültig Fakten schaffen wollen, koste es, was es wolle.
Das gilt für Lateinamerikaner wie auch für Europäer.
Was sollten die lehramtstreuen Katholiken tun?
Mit hoher Geschwindigkeit bewegt sich die Kirche in die Anarchie.
Erstens: In einer solchen Situation muss der Einzelne zusehen, dass er
seinen Glauben sturmfest macht: Durch das Gebet, durch die Sakramente, durch
die Vertiefung der katholischen Wahrheiten.
Durch das andächtige Beten des Glaubensbekenntnisses!
Zweitens: Er muss sich auch entschlossen und kraftvoll zur katholischen
Kirche bekennen und fest halten an seinem Glauben von der Unzerstörbarkeit der
Kirche, die Christus ihr verheißen hat (vgl. Mt 16,18 ff).