Dienstag, 15. März 2016

Ist Angela Merkel eine Göttin?


Foto: Armin Linnartz, CC BY-SA 3.0 Wikimedia Commons
Aus der Bibel kennen wir die Aussage „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“.

Dieser Satz hat zurzeit Hochkonjunktur in Deutschland: Was Angela Merkel für alternativlos erklärt, hat den Rang eines Dogmas in der neuen Religion vieler Deutscher. In den Talkshows am Sonntagabend nach den drei Landtagswahlen war für die Mehrheit der Teilnehmenden klar: Ca. 80 Prozent wollen Angela Merkel. Die anderen sind Ketzer oder Abgefallene.

Diese neue Ersatzreligion erlebt man schon eine Weile in den sozialen Netzwerken, vor allem in Twitter. Jegliche Kritik an Angela Merkel wird dort als Blasphemie empfunden. Ihre Flüchtlingspolitik wird mit einem Eifer verteidigt, der schon längst die politische Diskussionsebene verlassen hat.

Christian Geyer hat in der FAZ vom 15. März 2016 treffend bemerkt: „Der Flüchtling hat sich von der konkreten Flüchtlingspolitik längst gelöst und ist in die zivilreligiöse Substanz Deutschlands eingegangen. Das haben Dreyer und Kretschmann früher und genauer erkannt, als Merkels Parteisoldaten, . . . Merkels >Wir schaffen das< war von Anfang an der Versuch, Deutschland repetitiv auf eine neue zivilreligiöse Formel einzuschwören“.

Aus der Geschichte weiß man, dass die Deutschen anfällig dafür sind, die weltliche Herrschaft übertrieben zu sakralisieren, wenn nicht gar zu vergöttlichen.

Für die Germanen war der Herrscher eine sakrale Figur, fast wie ein Priester. Die Christianisierung hat diese tief verwurzelte Einsicht nicht völlig zivilisieren können, so dass die Deutschen nie ganz akzeptiert haben, dass die weltliche und die geistliche Ordnung unterschiedliche Dinge sind. Der Investiturstreit blieb lange ein Trauma im kollektiven Gedächtnis mancher Deutscher. Das protestantische Summepiskopat (kirchliche Leitungsgewalt der Landesfürsten) ist eine sanfte Form des Cäsaropapismus.

Diese Reflexe sind heute wieder voll aufgeblüht. So erhält Merkel einen geradezu göttlichen Status und ihre Politik wird wie das Lehramt einer Religion empfunden, wie wir die Probleme dieser Welt lösen können: Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Eurokrise, Energiekrise, Erderwärmung etc.

Daraus könnte man eine Litanei dichten:

Erhabene Angela, sprich für uns in der Welt.
Mächtige Angela, rette unser Geld vor der Finanzkrise.
Starke Angela, verschone uns vor der Klimakatastrophe.
Weise Angela, beende die Flüchtlingskrise.
Weitsichtige Angela, halte die EU zusammen
.

Es scheint so zu sein, dass Existenzkrisen besonders geeignet sind, diese religiösen Reflexe dem Herrscher gegenüber zu erwecken.

The Hero with a Thousand Faces“ von Joseph Campbell ist das Standardwerk, das diesen Sachverhalt beschreibt. Der deutsche Titel lautet „Der Heros in tausend Gestalten“. Campbell zeigt, dass der Werdegang vom Menschen zum Helden, der in den Olymp aufsteigt, in allen Kulturen derselbe ist: Nach mehreren Prüfungen und ein Hinabsteigen in der Unterwelt, in der er sich bewahrheiten muss, steigt der Mensch zum gottähnlichen Helden auf.

In den Augen vieler Deutscher ist genau das mit Angela Merkel geschehen: Sie überwand bisher alle Prüfungen und wird auch die Flüchtlingskrise überstehen. Sie ist gesegnet mit einer Weisheit, die sie unfehlbar macht. Am Ende werden alle Menschen erkennen müssen, dass Angela Merkel immer Recht hatte, auch in den Momenten, als der Glaube vieler wankte und sogar in Feindseligkeit umschlug.

Vielleicht sind die Deutschen aufgrund ihres gesteigerten Sicherheitsverlangens besonders anfällig für diese Mythenbildung. Unsere Bundesbürger investieren wenig in Aktien, sondern bunkern lieber Geld. Sie versichern sich gegen alle möglichen Widrigkeiten des Lebens. Schon in der Jugend sorgen sie sich, wie es ihnen im Alter ergehen wird.

Vielleicht kommen deshalb Typen wie Angela Merkel so gut an: Immer noch tritt sie cool auf, als ob nichts ihr anhaben könnte. Längst steht sie über den Untiefen der Parteipolitik und der Politik überhaupt. Ihr einziger Orientierungspunkt sind die Leitsätze der Religion, die sie selber kreiert hat. Sie tritt dermaßen sicher auf, dass sie tatsächlich an diese Religion zu glauben scheint und viele damit zu hypnotisieren vermag.

Auch diesen Sachverhalt beschreibt Joseph Campbell. Es handelt sich um den Schamanismus.

In Zeiten großer emotionaler Aufregung tut der Schamane nichts anderes, als das Objekt zu sein, auf welchem die Menschen ihre Urgefühle projizieren. Im Trancezustand schafft der Schamane die Kommunikation zu den höheren Kräften, indem er eine Reise antritt. Auch in dieser muss er viele Prüfungen überwinden, doch am Ende wird wieder die rechte Ordnung hergestellt.

Kann man auf diese Weise die hypnotische Wirkung Angela Merkels auf viele Menschen hierzulande erklären? Vielleicht können Tiefenpsychologen uns diese Frage beantworten.